Brief 1800-09-13

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Würzburg, 13. (-18.) September 1800

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Wilhelmine von Zenge


Ihro Hochwohlgeborn und Hochwürden dem Stiftsfräulein Wilhelmine von Zenge in Frankfurt an der Oder - frei bis Berlin [Duderstädt]

Würzburg, den 13. (-18.) September 1800

Mädchen! Wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem Halse weinen, heiße innige Freudentränen! Wie wirst Du mir mit Deiner ganzen Seele danken! - Doch still! Noch ist nichts ganz entschieden, aber - der Würfel liegt, und, wenn ich recht sehe, wenn nicht alles mich täuscht, so stehen die Augen gut. Sei ruhig. In wenigen Tagen kommt ein froher Brief an Dich, ein Brief, Wilhelmine, der - - Doch ich soll ja nicht reden, und so will ich denn noch schweigen auf diese wenigen Tage. Nur diese gewisse Nachricht will ich Dir mitteilen: ich gehe von hier nicht weiter nach Straßburg, sondern bleibe in Würzburg. Eher als Du glaubst, bin ich wieder bei Dir in Frankfurt. Küsse mich, Mädchen, denn ich verdiene es.

Laß uns tun, als ob wir nichts Interessanteres mit einander zu plaudern hätten, als fremdartige Dinge. Denn das, was mir die ganze Seele erfüllt, darf ich Dir nicht, jetzt noch nicht, mitteilen.

Also wieder etwas von dieser Stadt.

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Eine der vortrefflichsten Anstalten, die je ein Mönch hervorbrachte, ist wohl das hiesige Julius-Hospital, vom Fürstbischof Julius, im 16. Jahrhundert gestiftet, von dem vorletzten Fürstbischof Ludwig um mehr als das Ganze erweitert, veredelt und verbessert. Das Stammgebäude schon ist ein Haus, wie ein Schloß; aber nun sind noch, in ähnlicher Form, Häuser hinzugebaut worden, so daß die vordere Fassade 63 Fenster hat, und das Ganze ein geschloßnes Viereck bildet. Im innern Hofe ist ein großer Brunnen angelegt, hinten befindet sich ein vortrefflicher botanischer Garten, Badehäuser, ein anatomisches Theater und ein medizinisch-chirurgisches Auditorium.

Das Ganze ist ein Produkt der wärmsten Menschenliebe. Jedes Gebrechen gibt, wenn es ganz arm ist, ein Recht auf unbedingte kostfreie Aufnahme in diesem Hause. Die Wiederhergestellten und Geheilten müssen es wieder verlassen, die Unheilbaren und das graue Alter findet Nahrung, Kleidung und Obdach bis ans Ende des Lebens. Denn nur auf gänzliche Hülflosigkeit ist diese Anstalt berechnet, und wer noch auf irgend eine Art sich selbst helfen kann, der findet hier keinen Platz, weil er ihn einem Unglücklichern, Hülfsbedürftigern nehmen würde.

Dabei ist es besonders bemerkenswürdig und lobenswert, daß die religiöse Toleranz, die nirgends in diesem ganzen Hochstift anzutreffen ist, grade hier in diesem Spital, wo sie so nötig war, Platz gefunden hat, und daß jeder Unglückliche seine Zuflucht findet in dieser katholischen Anstalt, wäre es auch ein Protestant oder ein Jude.

Das Innere des Gebäudes soll sehr zweckmäßig eingerichtet sein. Ordnung wenigstens und Plan habe ich darin gefunden. Da beherbergt jedes Gebäude eine eigne Art von Kranken, entweder die medizinische oder chirurgische, und jeder Flügel wieder ein eignes Geschlecht, die männlichen oder die weiblichen. Dann ist ein besonderes Haus für Unheilbare, eines für das schwache Alter, eines für die Epileptischen, eines für die Verrückten etc. Der Garten steht jedem Gesitteten offen. Es wird in großen Sälen gespeiset. Eine recht geschmackvolle Kirche versammelt täglich die Frommen. Sogar die Verrückten haben da ihren vergitterten Platz.

Bei den Verrückten sahen wir manches Ekelhafte, manches Lächerliche, viel Unterrichtendes und Bemitleidenswertes. Ein paar Menschen lagen übereinander, wie Klötze, ganz unempfindlich, und man sollte fast zweifeln, ob sie Menschen zu nennen wären. Dagegen kam uns munter und lustig ein überstudierter Professor entgegen, und fing an, uns auf lateinisch zu harangieren, und fragte so schnell und flüchtig und sprach dabei ein so richtiges, zusammenhangendes Latein, daß wir im Ernste verlegen wurden um die Antwort, wie vor einem gescheuten Manne. In einer Zelle saß, schwarz gekleidet, mit einem tiefsinnigen, höchst ernsten und düstern Blick, ein Mönch. Langsam schlug er die Augen auf uns, und es schien, als ob er unser Innerstes erwog. Dann fing er, mit einer schwachen, aber doch tönenden und das Herz zermalmenden Stimme an, uns vor der Freude zu warnen und an das ewige Leben und an das heilige Gebet uns zu erinnern. Wir antworteten nicht. Er sprach in großen Pausen. Zuweilen blickte er uns wehmütig an, als ob er uns doch für verloren hielte. Er hatte sich einst auf der Kanzel in einer Predigt versprochen und glaubte von dieser Zeit an, er habe das Wort Gottes verfälscht. Von diesem gingen wir zu einem Kaufmann, der aus Verdruß und Stolz verrückt geworden war, weil sein Vater das Adelsdiplom erhalten hatte, ohne daß es auf den Sohn forterbte. Aber am Schrecklichsten war der Anblick eines Wesens, den ein unnatürliches Laster wahnsinnig gemacht hatte - Ein 18jähriger Jüngling, der noch vor kurzem blühend schön gewesen sein soll und noch Spuren davon an sich trug, hing da über die unreinliche Öffnung, mit nackten, blassen, ausgedorrten Gliedern, mit eingesenkter Brust, kraftlos niederhangendem Haupte - Eine Röte, matt und geadert, wie eines Schwindsüchtigen, war ihm über das totenweiße Antlitz gehaucht, kraftlos fiel ihm das Augenlid auf das sterbende, erlöschende Auge, wenige saftlose Greisenhaare deckten das frühgebleichte Haupt, trocken, durstig, lechzend hing ihm die Zunge über die blasse, eingeschrumpfte Lippe, eingewunden und eingenäht lagen ihm die Hände auf dem Rücken - er hatte nicht das Vermögen die Zunge zur Rede zu bewegen, kaum die Kraft den stechenden Atem zu schöpfen - nicht verrückt waren seine Gehirnsnerven aber matt, ganz entkräftet, nicht fähig seiner Seele zu gehorchen, sein ganzes Leben nichts als eine einzige, lähmende, ewige Ohnmacht - O lieber tausend Tode, als ein einziges Leben wie dieses! So schrecklich rächt die Natur den Frevel gegen ihren eignen Willen! O weg mit diesem fürchterlichem Bilde –

Nicht ohne Rührung und Ehrfurcht wandelt man durch die Hallen dieses weiten Gebäudes, wenn man alle diese großen, mühsamen, kostspieligen Anstalten betrachtet, wenn man die Opfer erwägt, die sie dem Stifter und den Unterhaltern kostet. Die bloße Erhaltung der ganzen Anstalt beträgt jährlich 60 000 fl. Damit ist zugleich eine Art von chirurgischer Pepiniere verknüpft, so daß bei dem Hospital selbst die künftigen Ärzte desselben gebildet werden. Lehrer sind die praktischen Ärzte, wie Seybold, Brünningshausen etc.

Aber wenn man an den Nutzen denkt, den diese Anstalt bringt, wenn man fragt, ob mit so großen Aufopferungen auf einem minder in die Augen fallenden Wege nicht noch weit mehr auszurichten sein würde, so hört man auf, diese an sich treffliche Anstalt zu bewundern, und fängt an, zu wünschen, daß das ganze Haus lieber gar nicht da sein möchte. Weit inniger greift man in das Interesse des hülflosen Kranken ein, wenn man ihn in seinem Hause, mit Heilung, Kleidung, Nahrung, oder statt der beiden letzten Dinge mit Geld unterstützt. Ihn erfreut doch der stolze Palast und der königliche Garten nicht, der ihn immer an seine demütigende Lage, an die Wohltat, die er nie abtragen kann erinnert; aller dieser Anschein von Pracht wird schwerlich mehr, als den Kranken und sein Gefühl durch den bittern Kontrast mit seinem Elende noch mehr drücken. Es liegt eine Art von Spott darin, erst ganz hilflos werden zu müssen um königlich zu wohnen - - Eigentlich weiß ich mich nicht recht auszudrücken. Aber ich bin gewiß, daß gute, stille, leidende Menschen weit lieber im Stillen Wohltaten annehmen, als sie hier mit prahlerischer Publizität zu empfangen. Auch würde wirklich jedem Kranken leichter geholfen werden, als hier, wo bei dem Zusammenfluß so vieles Elendes Herz und Mut sinken. Besonders die Verrückten können in ihrer eignen Gesellschaft nie zu gesundem Verstande kommen. Dagegen würde dies gewiß bei vielen möglich sein, wenn mehrere vernünftige Leute, etwa die eigne Familie, unter der Leitung eines Arztes, sich bemühte den Unglücklichen zur Vernunft zurückzuführen. Man könnte einwerfen, daß dies alles mehrere Kosten noch verursachen würde, aber man bedenke nur daß die bloße Einrichtung dieser Anstalt Millionen kostet, und daß dies alles dann nicht nötig wäre. - Indessen so viel ist freilich wahr, daß die ganze Wohltat dann nicht so viel Ansehen hätte. Daß doch immer auch Schatten sich zeigt, wo Licht ist!

den 14. September

Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als - in den Lesebibliotheken.

Höre was ich darin fand, und ich werde Dir ferner nichts mehr über den Ton von Würzburg zu sagen brauchen.

»Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.« - Hier steht die Sammlung zu Befehl. - »Etwa von Wieland.« - Ich zweifle fast. -»Oder von Schiller, Goethe.« - Die möchten hier schwerlich zu finden sein. - »Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen?« - Das eben nicht. - »Wer liest denn hier eigentlich am meisten?« - Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen. - »Und die unverheirateten?« - Sie dürfen keine fordern. - »Und die Studenten?« - Wir haben Befehl ihnen keine zu geben. - »Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers?« - Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen. - »Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek?« - Wir dürfen nicht. - »Was stehn denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden?» - Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten m i t Gespenstern, links o h n e Gespenster, nach Belieben. - »So, so.» - -

Nach Vergnügungen fragt man hier vergebens. Man hat hier nichts im Sinn als die zukünftige himmlische Glückseligkeit und vergißt darüber die gegenwärtige irdische. Ein elender französischer Garten, der Huttensche, heißt hier ein Rekreationsort. Man ist aber hier so still und fromm, wie auf einem Kirchhofe. Nirgends findet man ein Auge, das auf eine interessante Frage eine interessante Antwort verspräche. Auch hier erinnert das Läuten der Glocken unaufhörlich an die katholische Religion, wie das Geklirr der Ketten den Gefangnen an seine Sklaverei. Mitten in einem geselligen Gespräche sinken bei dem Schall des Geläuts alle Knie, alle Häupter neigen, alle Hände falten sich; und wer auf seinen Füßen stehen bleibt, ist ein Ketzer.

den 15. September

Meine liebe, liebste Freundin! Wie sehnt sich mein Herz nach einem paar freundlicher Worte von Deiner Hand, nach einer kurzen Nachricht von Deinem Leben, von Deiner Gesundheit, von Deiner Liebe, von Deiner Ruhe! Wie viele Tage verlebten wir jetzt getrennt von einander und wie manches wird Dir zugestoßen sein, das auch mich nahe angeht! Und warum erfahre ich nichts von Dir? Bist Du gar nicht mehr? Oder bist Du krank? Oder hast Du mich vergessen, mich, dem der Gedanke an Dich immer gegenwärtig blieb? Zürnst Du vielleicht auf den Geliebten, der sich so mutwillig von der Freundin entfernte? Schiltst Du ihn leichtsinnig, den Reisenden, ihn, der auf dieser Reise Dein Glück mit unglaublichen Opfern erkauft und jetzt vielleicht - vielleicht schon gewonnen hat? Wirst Du mit Mißtrauen und Untreue dem lohnen, der vielleicht in kurzem mit den Früchten seiner Tat zurückkehrt? Wird er Undank bei dem Mädchen finden, für deren Glück er sein Leben wagte? Wird ihm der Preis nicht werden, auf den er rechnete, ewige innige zärtliche Dankbarkeit? - Nein, nein - Du bist für den Undank nicht geschaffen. Ewig würde Dich die Reue quälen. Tausend Ursachen konnten verhindern, daß Briefe von Dir zu mir kamen. Ich halte mich fest an Deine Liebe. Mein Vertrauen zu Dir soll nicht wanken. Mich soll kein Anschein verführen. Dir will ich glauben und keinem andern. Ich selbst habe ja auch bestellt, daß alle Briefe in Bayreuth liegen bleiben sollten. Andere konnten zwar einen andern Weg über Duderstadt nehmen - indessen ich bin ruhig. Schon vor 4 Tagen habe ich nach Bayreuth geschrieben, mir die Briefe nach Würzburg zu senden - heute war noch nichts auf der hiesigen Post, aber morgen, morgen, - oder übermorgen, oder - -

Und was werde ich da alles erfahren! Mit welchen Vorgefühlen werde ich das Kuvert betrachten, das kleine Gefäß das so vieles in sich schließt! Ach, Wilhelmine, in sechs Worten kann alles liegen, was ich zu meiner Ruhe bedarf. Schreibe mir: ich bin gesund; ich liebe Dich, - und ich will weiter nichts mehr.

Aber doch - Nachrichten von Deinen redlichen Eltern und überhaupt von Deinen Geschwistern. Ist alles wieder gesund in Eurem Hause? Schläft Mutter wieder unten? Hat Vater nicht nach mir gefragt? - Was spricht man überhaupt von mir in Frankfurt? - Doch das wirst Du wohl nicht hören. Nun, es sei! Mögen sie sprechen, was sie wollen, mögen sie mich immerhin verkennen! Wenn wir beide uns nur ganz verstehen, so kümmert mich weiter kein Urteil, keine Meinung. Jedem will ich Mißtrauen verzeihen, nur Dir nicht; denn für Dich tat ich alles, um es Dir zu benehmen. - Verstehst Du die Inschrift der Tasse? Und befolgst Du sie? Dann erfüllst Du meinen innigsten Wunsch. Dann weißt Du, mich zu ehren.

Vielleicht erhalte ich auch den Aufsatz von Dir - oder ist er noch nicht fertig? Nun, übereile Dich nicht. Ein Frühlingssonnenstrahl reift die Orangenblüte, aber ein Jahrhundert die Eiche. Ich möchte gern etwas Gutes, etwas Seltenes, etwas Nützliches von Dir erhalten das ich selbst gebrauchen kann; und das Gute bedarf Zeit, es zu bilden. Das Schnellgebildete stirbt schnell dahin. Zwei Frühlingstage - und die Orangenblüte ist verwelkt, aber die Eiche durchlebt ein Jahrtausend. Was ich von Dir empfange soll mehr als auf zwei Augenblicke duften, ich will mich seiner erfreuen mein Lebenlang.

Ja, Wilhelmine, wenn Du mir könntest die Freude machen, immer fortzuscheiten in Deiner Bildung mit Geist und Herz, wenn Du es mir gelingen lassen könntest, mir an Dir eine Gattin zu formen, wie ich sie für mich, eine Mutter, wie ich sie für meine Kinder wünsche, erleuchtet, aufgeklärt, vorurteillos, immer der Vernunft gehorchend, gern dem Herzen sich hingebend - dann, ja dann könntest mir für eine Tat lohnen, für eine Tat -

Aber das alles wären vergebliche Wünsche, wenn nicht in Dir die Anlage zu jedem Vortrefflichen vorhanden wäre. Hineinlegen kann ich nichts in Deine Seele, nur entwickeln, was die Natur hineinlegte. Auch das kann ich eigentlich nicht, kannst nur Du allein. Du selbst mußt Hand an Dir legen, Du selbst mußt Dir das Ziel stecken, ich kann nichts als Dir den kürzesten, zweckmäßigsten Weg zeigen; und wenn ich Dir jetzt ein Ziel aufstellen werde, so geschieht es nur in der Überzeugung, daß es von Dir längst anerkannt ist. Ich will nur deutlich darstellen, was vielleicht dunkel in Deiner Seele schlummert.

Alle echte Aufklärung des Weibes besteht zuletzt darin, vernünftig über die Bestimmung ihres irdischen Lebens nachdenken zu können. Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibniz glaubte, oder die Erfüllung der trocknen Pflicht, wie Kant versichert, der letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich. Wie können wir uns getrauen in den Plan einzugreifen, den die Natur für die Ewigkeit entworfen hat, da wir nur ein so unendlich kleines Stück von ihm, unser Erdenleben, übersehen? Also wage Dich mit Deinem Verstande nie über die Grenzen Deines Lebens hinaus. Sei ruhig über die Zukunft. Was Du für dieses Erdenleben tun sollst, das kannst Du begreifen, was Du für die Ewigkeit tun sollst, nicht; und so kann denn auch keine Gottheit mehr von Dir verlangen, als die Erfüllung Deiner Bestimmung auf dieser Erde. Schränke Dich also ganz für diese kurze Zeit ein. Kümmre Dich nicht um Deine Bestimmung nach dem Tode, weil Du darüber leicht Deine Bestimmung auf dieser Erde vernachlässigen könntest.

den 18. September 1800

Als ich so weit gekommen war, fiel mir ein, daß wohl manche Erläuterungen nötig sein möchten, um gegen Deine Religionsbegriffe nicht anzustoßen. Zugleich sah ich, daß dieser Gegenstand zu reichhaltig war für einen Brief, und entschloß mich daher Dir einen eignen Aufsatz darüber zu liefern. Den Anfang davon macht der beifolgende dritte Bogen. Laß uns beide, liebe Wilhelmine, unsre Bestimmung ganz ins Auge fassen, um sie künftig einst ganz zu erfüllen. Dahin allein wollen wir unsre ganze Tätigkeit richten. Wir wollen alle unsre Fähigkeiten ausbilden, eben nur um diese Bestimmung zu erfüllen. Du wirst mich, ich werde Dich darin unterstützen, und daher künftig in diesem Aufsatze fortfahren.

Wie ich auf die Idee des Ganzen gekommen bin, das wirst Du in der Folge leicht erraten. - Wie ich auf den Gedanken gekommen bin, Dich vor religiösen Grübeleien zu warnen, das will ich Dir hiermit sagen. Nicht weil sie etwa von Dir sehr zu befürchten wären, sondern darum, weil ich eben grade in einer Stadt lebe, wo man über die Andacht die Tätigkeit ganz vergißt, und auch darum, weil Brokes mich umgibt, der unaufhörlich mit der Natur im Streit ist, weil er, wie er sagt, seine ewige Bestimmung nicht herausfinden kann, und daher nichts für seine irdische tut. Doch darüber in der Folge mehr.

Jetzt muß ich schließen. Ich wollte warten bis ich doch endlich von Dir einen Brief empfangen haben würde, um dies Dir zu melden, aber vergebens. Liebe Wilhelmine! - Sei ruhig. Ich bleibe Dir herzlich gut, in der festen Überzeugung, daß Du auch mir noch herzlich gut bist, - wenn Du noch lebst. - O meine Hoffnung! - Sei ruhig. Mache keine Anstalten wegen der Briefe. Wenn ich in 3 Tagen keinen erhalte, so schicke ich selbst einen Laufzettel zurück. Denn geschrieben hast Du gewiß. Lebe wohl.

Dein Heinrich.

den 18. nachmittags

Ich möchte gern diesen Brief noch zurückhalten bis morgen, denn morgen hoffe ich doch gewiß einen Brief zu erhalten. Aber ich habe schon seit 6 Tagen keinen Brief an Dich abgeschickt, und Deiner Ruhe ist doch wohl nicht recht zu trauen. - Mädchen! Mädchen!

Weißt Du was? Es ist möglich, daß grade über Bayreuth die Briefe so unglücklich gehen. Schreibe mir geschwind einen, und adressiere ihn über Duderstadt nach Würzburg. Vielleicht glückt das besser.

Wenn ich denke, daß auch Du alle meine Briefe nicht erhalten haben könntest, und mich für untreu hieltest, indessen ich doch mit so inniger Treue an Dich hing - o Gott!

Auch von Ulriken habe ich noch nichts empfangen. Sage ihr dies. Aber noch soll sie keinen Laufzettel schicken.

Und nun noch eine Neuigkeit. Der Waffenstillstand war gestern schon wieder verflossen. Hier erwartet man nun täglich die Franzosen. Es heißt aber, daß mehrere Kaiserliche heranrücken. Die Festung soll nach wie vor behauptet werden. Sei Du aber ganz ruhig über mich. Diese Veränderung hat jetzt keinen Einfluß mehr auf die Erfüllung meines Plans, den ich fast schon erfüllt nennen kann. Doch muß ich noch einige Zeit hier bleiben und werde aber bei dem Kriege nichts als ein neutraler Zuschauer sein. Adieu. Ich küsse die liebe Hand, die ich einst mein nennen werde. Dein Freund H. K.

Abgeschickt
1. Brief aus Berlin
2. _____ Pasewalk
3. _____ Berlin
4. _____ Berlin
5. _____ Leipzig
6. _____ Dresden
7. _____ Reichenbach
8. _____ Bayreuth
9. _____ Würzburg
10. ____ Würzburg
und diesen.

Empfangen
2 Briefe.


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