Brief 1801-05-04

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Dresden, 4. Mai 1801

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Wilhelmine von Zenge


An Fräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwohlgeb. zu Frankfurt a. Oder

Dresden, den 4. Mai 1801

Liebe Wilhelmine, heute lag ich auf den Brühlschen Terrassen, ich hatte ein Buch mitgenommen, darin zu lesen, aber ich war zerstreut und legte es weg. Ich blickte von dem hohen Ufer herab über das herrliche Elbtal, es lag da wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füßen - es schien mir wie eine Landschaft auf einen Teppich gestickt, grüne Fluren, Dörfer, ein breiter Strom, der sich schnell wendet, Dresden zu küssen, und hat er es geküßt, schnell wieder flieht - und der prächtige Kranz von Bergen, der den Teppich wie eine Arabeskenborde umschließt - und der reine blaue italische Himmel, der über die ganze Gegend schwebte - Mich dünkte, als schmeckte süß die Luft, holde Gerüche streuten mir die Fruchtbäume zu, und überall Knospen und Blüten, die ganze Natur sah aus wie ein funfzehnjähriges Mädchen - Ach, Wilhelmine, ich hatte eine unaussprechliche Sehnsucht, nur einen Tropfen von Freude zu empfangen, es schien ein ganzes Meer davon über die Schöpfung ausgegossen, nur ich allein ging leer aus - Ich wünschte mir nur so viel Heiterkeit, und auch diese nur auf eine so kurze Zeit als nötig wäre, Dir einen heitern kurzen Brief zu schreiben. Aber der Himmel läßt auch meine bescheidensten Wünsche unerfüllt. Ich beschloß, auch für diesen Tag noch zu schweigen - Da sah ich Dich im Geiste, wie Du täglich auf Nachrichten harrest, täglich sie erwartest und täglich getäuscht wirst, ich dachte mir, wie Du Dich härmst und Dich mit falschen Vorstellungen quälst, vielleicht mich krank glaubst, oder wohl gar - Da stand ich schnell auf, rief Ulriken, die lesend hinter mir saß, mir zu folgen, ging in mein Zimmer, und sitze nun am Tische, Dir wenigstens zu schreiben, daß ich noch immer lebe und noch immer Dich liebe.

Liebe, teure Freundin, erlaß mir eine weitläufigere Mitteilung, ich kann Dir nichts Frohes schreiben, und der Kummer ist eine Last, die noch schwerer drückt, wenn mehrere daran tragen. Noch habe ich seit meiner Abreise von Berlin keine wahrhaft vergnügte Stunde genossen, zerstreut bin ich wohl gewesen, aber nicht vergnügt - Meine heitersten Augenblicke sind solche, wo ich mich selbst vergesse - und doch, gibt es Freude, ohne ruhiges Selbstbewußtsein? Ach, Wilhelmine, Du bist glücklich gegen mich, weil Du eine Freundin hast - ich kann Ulriken alles mitteilen, nur nicht, was mir das Teuerste ist. Du glaubst auch nicht, wie ihr lustiges, zu allem Abenteuerlichen aufgewecktes Wesen, gegen mein Bedürfnis absticht - Ach, könnte ich vier Monate aus meinem Leben zurücknehmen! Adieu, adieu, ich will vergessen, was nicht mehr zu ändern ist - Lebe wohl, mit dem ersten frohen Augenblick erhältst Du einen recht langen Brief von mir. Bis dahin laß mich schweigen - wenn Du fürchtest, daß ich Dich kälter lieben werde, so quälst Du Dich vergeblich. O Gott, wenn mir ein einziger Wunsch erfüllt würde, mich aus diesem Labyrinthe zu retten - Liebe Wilhelmine, schreibe mir doch gleich nach Leipzig. Umstände haben uns verhindert, bereits dort zu sein. Du wirst aber wahrscheinlich einen Brief für mich an Minna Clausius geschickt haben, den sie nun, da sie mich nicht in Leipzig gesprochen hat, wieder nach Berlin zurückgenommen haben wird. Also würde ich jetzt, wenn Du nicht gleich schreibst, keinen Brief von Dir in Leipzig finden, wo ich ohngefähr in 10 Tagen einzutreffen denke. Schreibe also doch gleich, wenn Du kannst, und es Dir nicht auch so schwer wird wie mir - Adieu, grüße Louisen, und denke nur ein halb mal so oft an mich, wie ich an Dich denke, und zur bestimmten Zeit - Du weißt sie doch noch? Vielleicht erhältst Du noch von Dresden aus einen Brief von mir.

H. K.


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