Brief 1801-11-00/02

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Paris und Frankfurt am Main, November 1801

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Adolfine von Werdeck


[Paris und Frankfurt am Main, November 1801]

[Der Anfang fehlt]... Sie es nicht auch -? Doch nichts davon. Es gibt unschuldige Gestalten, welche erröten, wenn zwei Menschen sie ansehen. Einem zeigen sie sich gern. -

- Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der deutschen Freiheit, die nun ihr Grab gefunden hat? Ach, wie ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt! Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön? Die armen lechzenden Herzen! Schönes und Großes möchten sie tun, aber niemand bedarf ihrer, alles geschieht jetzt ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden. Wenn uns ein Armer um eine Gabe anspricht, so befiehlt uns ein Polizeiedikt, daß wir ihn in ein Arbeitshaus abliefern sollen. Wenn ein Ungeduldiger den Greis, der an dem Fenster eines brennenden Hauses um Hilfe schreit, retten will, so weiset ihn die Wache, die am Eingange steht, zurück, und bedeutet ihn, daß die gehörigen Verfügungen bereits getroffen sind. Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu den Waffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. - Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment?

- Sie scheinen mit Goethens Person nicht so zufrieden zu sein, wie mit seinen Schriften. - Aber ums Himmels willen, gnädigste Frau, wenn wir von den Dichtern verlangen wollen, daß sie so idealisch sein sollen, wie ihre Helden, wird es noch Dichter geben? Und wenn die Menschen alles tun sollen, was sie in ihren Büchern lehren, wird uns jemand wohl noch Bücher schreiben?

- Ich soll Ihnen etwas von den hiesigen Kunstwerken mitteilen? Herzlich gern, so gut das nämlich durch die Sprache angeht. - Es ist seltsam, daß ich unter den hiesigen Bildern nicht das Vergnügen empfinde, das ich in der dresdenschen Galerie genoß. Es sind hier in drei großen Sälen eine ganz erstaunliche Menge von Gemälden, aus allen Schulen Europas und zwar fast bloß Meisterstücke vorhanden; aber ein Stück kann sehr gelehrt sein, ohne daß es darum gefällt. [Etwa 8 Zeilen fehlen] ... und die, die ihn von unten empfangen, berühren ihn so wehmütig sanft, als wollten sie ihm noch im Tode Schmerzen ersparen. Dann zähle ich noch zu meinen Lieblingsstücken einen Guido [Reni], die Vereinigung der Zeichnung mit dem Kolorit, höchst sinnreich und gedankenvoll, ein Stück, das keinen andern Fehler hat, als diesen, daß es eine Allegorie ist. Zuletzt ist noch unter den wenigen aufgestellten Raphaelen ein Erzengel, von dem man recht sagen kann, daß er heranwetter, einen Teufel niederzuschmettern. Aber - Ach, in Dresden war eine Gestalt, die mich wie ein geliebtes, angebetetes Wesen in der Galerie fesselte - und ich kann mir jetzt die Schwärmerei der alten Chevalerie, Traumgestalten wie Lebende anzubeten, sehr wohl erklären. - Ich sprach von Raphaels Mutter Gottes. Mußte ich das noch hinzusetzen -? Sie sind ja, wie ich aus Ihrem Briefe sehe, in Kassel gewesen. Da werden Sie nicht versäumt haben, in dem Zimmer des Direktors Tischbein zwei seinem hannövrischen Bruder gehörige Stücke zu sehen, die alle landgräflichen Tableaus aufwiegen: nämlich der heilge Johannes von Raphael und ein Engel des Friedens von Guido [Reni]. Das sind ein paar Bilder, die man stundenlang mit immer beschäftigter Seele betrachten kann. Man steht vor einer solchen Gestalt, wie vor einem Schatze von Gedanken, die in üppiger Mannigfaltigkeit auf den Ruf einer Seele heraufsteigen. Wie schlecht verstehn sich die Künstler auf die Kunst, wenn sie, wie Lebrun ganze Wände mit einer zehnfach komplizierten Handlung bemalen. Eine Empfindung, aber mit ihrer ganzen Kraft darzustellen, das ist die höchste Aufgabe für die Kunst, und darum ist Raphael auch mir ein Liebling. In dem Antlitz eines einzigen Raphaels liegen mehr Gedanken, als in allen Tableaus der französischen Schule zusammengenommen, und während man kalt vor den Schlachtstücken, deren Anordnung das Auge kaum fassen kann, vorübergeht, steht man still vor einem Antlitz und denkt. - Viele der schönsten Tableaus aus der italienischen Schule sind hier noch nicht aufgestellt, und es ist verboten, Fremde in den Saal zu führen, wo sie auf dem Boden übereinander liegen. Ein freundliches Wort aber und ein kleiner Taler vermögen alles bei dem Franzosen, und der Aufseher ließ mich heimlich in den Saal schlüpfen, wo Raphaels Verklärung zu sehen war. - Unwürdig ist es, wie man hier mit den eroberten Kunstwerken umgeht. Nicht genug, daß einige Tableaus ganz verschwunden sind, niemand weiß, wohin? und daß eine Menge von Gemmen, statt in dem Antikenkabinett aufbewahrt zu werden, die Hälse der Weiber französischer Generale schmücken; auch die vorhandnen Kunstwerke werden nicht sorgsam genug aufbewahrt, und besonders in dem noch nicht vollendeten Saale liegen die Blätter, die das Entzücken der Seele sind, wild und bestaubt und mit Kreide beschrieben übereinander. Ja selbst die vollendeten Säle sind bei weitem nicht prächtig genug, um würdig solche Werke aufzubewahren. Der große, wenigstens 200 Schritt lange, aber sehr schmale Saal im Louvre, in welchem mit schlechten hölzernen Rahmen die Tableaus in ungleicher, übergehender Richtung aufgehängt sind, sieht aus wie eine Polterkammer. Der Saal, in welchem die Götter und Heroen der Griechen versammelt sind, ist, statt mit Marmor, mit Holz gefüttert, das den Zuschauer mit der Farbe des ewigen Steines betrügen soll. Recht traurig ist der Anblick dieser Gestalten, die an diesem Orte wie Emigrierte aussehen - Der Himmel von Frankreich scheint schwer auf ihnen zu liegen, sie scheinen sich nach ihrem Vaterlande, nach dem klassischen Boden zu sehnen, der sie erzeugte, oder doch wenigstens als Waisen hoher Abkunft würdig ihrer pflegte. - Ja, wahrlich, kann man weniger tun, als den Diamanten in Gold fassen? Und wenn man für diese ganze Sammlung von Kunstwerken, die kein König bezahlen kann, ein Gebäude aufführte nach allen Forderungen der Pracht und des Geschmacks, hieße das mehr tun, als wenn man ein einziges Tableau in einen vergoldeten Rahm hängt? - Sie können leicht denken, daß die Säle immer dichtgedrängt voll Menschen sind. Selbst der Wasserträger setzt an dem Eingange seine Eimer nieder, um ein Weilchen den Apoll vom Belvedere zu betrachten. Ein solcher Mensch denkt, er vertriebe sich die Zeit, indessen ihn der Gott große Dinge lehrt. - Viel freilich muß der Franzose noch lernen. Kürzlich stand einer neben mir und fragte: tout cela, est il fait à Paris? - In der Bildergalerie zu Versailles kann ein Künstler die französische Schule ganz vollständig studieren. Da ist doch ein Genie, vor dem sich eine Frau, wie Sie, beugen muß. Le Sueur ist sein unbekannter Name. Nahe dem Raphael ist er getreten, und wer weiß wohin er gestiegen wäre, wenn nicht der Neid seines Nebenbuhlers Lebrun ihn aus dem Wege geräumt hätte. Man sagt, daß er, noch ein Jüngling, an der Vergiftung starb. - Noch ein Museum ist hier vorhanden, das ich auch selbst in Hinsicht der äußern Einrichtung vortrefflich nennen möchte. Es ist einzig in seiner Art. Man hat nämlich alle französischen, in den Zeiten des Vandalismus ihrem Untergange nahe, Kunstwerke des Altertums aus Kirchen und Kirchhöfen nach Paris gebracht, und hier in einem Kloster, in seinem Kreuzgange, und in seinem Garten, aufgestellt; und so ist eine Sammlung entstanden, welche den Kunstgeschichtsforscher über den ganzen Gang der Kunst in Frankreich, aufklären kann. Immer den Produkten eines jeden Jahrhunderts ist ein eigner, seinem Geiste entsprechender Saal gewidmet - In dem Garten stehen hier und dort Urnen voll heiliger Asche. Sie würde ich zuerst in einen Winkel des Gartens führen. Da steht unter einer dunkeln Plantane ein altes, gotisches Gefäß. Das Gefäß enthält die Asche Abälards und Heloïsens. - Es wird Ihnen wohl auch interessant sein, etwas von den neuern Kunstwerken zu hören, die während der 5 Ergänzungstage, welche das französische Jahr beschließen, in dem Louvre aufgestellt waren. Erwarten Sie aber nicht viel davon - Erwarten Sie überhaupt nicht viel von der neuern Kunst. Kunstwerke sind Produkte der Phantasie, und der ganze Gang unsrer heutigen Kultur geht dahin, das Gebiet des Verstandes immer mehr und mehr zu erweitern, das heißt, das Gebiet der Einbildungskraft immer mehr und mehr zu verengen.

Frankfurt am Main, den 29. November 1801

Liebe Freundin, wie soll ich Ihnen so vieles, das Ihnen bei dieser Überschrift auffallen wird, erklären? Ach, das Leben wird immer verwickelter und das Vertrauen immer schwerer. - Ich habe mit Ulriken Paris verlassen und sie bis Frft. am Main begleitet. Von hier aus geht sie allein in ihr Vaterland zurück. Ich gehe nach der Schweiz. - Beim Einpacken fand ich diesen unvollendeten Brief. Halten Sie, wenn es möglich ist, bei dieser Verzögerung meiner seltsamen Stimmung, die Sie nicht kennen, etwas zugute. Ich weiß es, daß Sie auch den Wert, den das Unvollkommene hat, empfinden. - Wenn Sie mir ein paar freundliche Worte nach Bern schreiben wollten, so wird es mir herzlich lieb sein. Könnten Sie nicht auch Leopold dazu aufmuntern, von dem ich seit unsrer Trennung nicht eine Zeile gesehen habe? - Wenn es noch Zeit ist, das Kapital von 500 Rth. an Werdeck für Weihnachten auszuzahlen, so ersuche ich ihn, ein paar Worte darüber an Wilhelm Pannwitz zu schreiben, der alle meine Geldgeschäfte besorgt. Wie geht es ihm? Ist er gesund? Und heiter? - Grüßen Sie Fr. Schlegel und Braut, und schenken Sie immer Ihr Wohlwollen Ihrem Freunde Heinrich Kleist.


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