Brief 1806-11-24

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Königsberg, 24. November 1806

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Marie von Kleist


Möchte doch der Genius der Freundschaft diese wenigen Zeilen glücklich durch das Getümmel begleiten, das der Krieg so fürchterlich plötzlich zwischen uns eingewälzt hat! O meine teuerste Freundin! Leben Sie noch? Haben Sie so viele Schrecknisse, gleichzeitig auf Sie einstürzend, ertragen können? Ich schrieb Ihnen zweimal, um die Zeit des Ausbruchs des Krieges etwa, doch ohne von Ihnen Antwort zu erhalten. Darunter ist mir besonders der erste Brief wichtig, in welchem eine Einlage an Fr. v. N. war. Ihr letzter Brief war noch nach Pillau adressiert, traf mich aber schon in Königsberg. Gleich darauf war ich willens, nach Berlin abzureisen, traf auch schon alle Anstalten dazu; doch als ich auf die Post kam, war der Kurs schon unterbrochen. Wie glücklich wären wir schon gewesen, wenn wir so viel Unglück nur hätten miteinander empfinden, und uns wechselseitig trösten können. Was haben Sie denn für Nachrichten von unsern unglücklichen Freunden? Von Kleist? Rühle? Pfuel? Und meinem Bruder? Und den übrigen? Pfuel ist von Brause, der sich hier befindet, in Küstrin noch gesehen worden, von wo er sich zum Hohenlohischen Korps begeben, und bei Prenzlow wahrscheinlich das Schicksal des Ganzen gehabt hat. Von Rühle, Kleist, und den andern, weiß er nichts. Schlotheim, der mit dem Münzkabinett nach Stettin gegangen war, schrieb mir von dort, daß er nicht müßig sein könne, und bei den Fußjägern des Hohenlohischen Korps Dienste suchen wolle, das gleich darauf gefangen ward. Ob er das Unglück gehabt hat, anzukommen, weiß ich nicht. Ach, meine teuerste Freundin! Was ist dies für eine Welt? Jammer und Elend so darin verwebt, daß der menschliche Geist sie nicht einmal in Gedanken davon befreien kann. Ich bin diese Zeit über noch immer krank gewesen, litt am Fieber, Verstopfungen usw. und empfand die Wahrheit des D‘Alembertschen Grundsatzes, daß zwei Übel, zusammengenommen, zu einer Tröstung werden können; denn eines zerstreute mich vom andern. Eine Zeitlang gab ich der Hoffnung Raum, daß ich das unsägliche Glück haben würde, Sie hier zu sehen; ich glaubte, weil alles flüchtet, Sie würden vielleicht der K[önigin] folgen; doch ein Tag verging nach dem andern, ohne Erfüllung. Morgen ist nun der allerletzte Termin; denn morgen kommen er und sie hier an. Versuchen Sie doch auch einen Brief, meine liebe Freundin, es läßt sich nicht denken, wer dabei ein Interesse haben sollte, das bürgerliche Leben, und die stillen, unfeindseligen Verbindungen desselben zu stören. Ich möchte so gern einige Nachrichten von meinen Freunden haben, in einer solchen Ungewißheit gelten sie mir für halbtot, und ich leide soviel, als wären sie es ganz.

Auch wenn Sie es möglich machen können, mir das Geld, das Sie noch für mich im Vorrat haben, zuzuschicken, soll es mir lieb sein, denn der meinige geht nachgerade aus. Doch empfehle ich Vorsicht deshalb, und schlage einen Wechsel, oder eine Anweisung vor. Adieu, adieu tausendmal, bis auf bessere Zeiten, lassen Sie bald etwas Erfreuliches von sich hören.

H. v. Kl.

[Königsberg,] den 24. Nov. [1806]


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