Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 36)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Wilhelmine von Zenge an Professor Krug (16. Juni 1803)

Daß ich von meinen Eltern sehr einfach und häuslich erzogen wurde, ist Ihnen bekannt. Von meinem 16. Jahre an führte meine Mutter mich in alle Gesellschaften, sie begleitete mich in große Assembleen, wo ich das Hofleben anstaunte, Opern, Redanten und Bälle besuchte ich, und genoß, da mir diese Freuden so ganz neu waren, dies alles eine Zeitlang mit großem Interesse, doch blieb mein Herz bei dem allen sehr leer, und mit Freuden kehrte ich wieder in unsere stille Häuslichkeit zurück. Als ich 18 Jahr alt war, bekam mein Vater das Regiment in Frankfurt. Damals trennte ich mich sehr ungern von Berlin, da ich einen sehr geliebten Bruder, und eine ebenso geliebte Freundin zurücklassen mußte; doch war mein Herz noch von keinem Manne besonders gerührt worden. Mit einem tanzte oder unterhielt ich mich vielleicht lieber als mit dem andern, doch hatte keiner besonders teil an meiner Traurigkeit bei dem Abschiede von Berlin.

Die erste Zeit gefiel es mir gar nicht in Frankfurt, wir alle lebten noch ganz in Berlin, bis sich auch hier Menschen fanden, welche sich für uns interessierten, und uns durch mancherlei Vergnügungen zu zerstreuen suchten. Unter diesen zeichnete sich besonders die Kleistsche Familie aus.

Der Lieutenant [Leopold v.] Kleist stand damals noch bei des Vaters Regiment. Auch er kam mit seinen Schwestern beinahe täglich zu uns, und wurde von allen gern gesehen, weil er ein sehr fröhlicher junger Mann war, und uns durch seinen Scherz oft zu lachen machte. Sein älterer Bruder [Heinrich], welcher als Lieutenant bei der Garde stand, nahm damals den Abschied, um hier in Frankfurt zu studieren. Auch er wurde unser Nachbar, nahm aber keinen Teil an unsere Gesellschaft, wenn wir zu seinen Schwestern kamen. Erst als sein Bruder nach Potsdam versetzt wurde, und seine Schwestern ihren Begleiter, und wir einen angenehmen Gesellschafter verloren hatten, gesellte er sich zu uns. Wir fanden aber alle, daß er die Stelle des Bruders nicht ersetze, denn er war sehr melancholisch und finster, und sprach sehr wenig. Bald aber begleitete er uns auf allen Spaziergängen, kam mit seinen Schwestern auch zu uns, spielte und sang mit mir, und schien sich in unserer Gesellschaft zu gefallen. Damals hörte er Experimentalphysik bei Dr. Wünsch, wovon er uns gewöhnlich nach dem Collegia mit großem Interesse unterhielt; auch wir nahmen so lebhaft Anteil an allem was er uns darüber sagte, daß seine Schwestern, wir, und noch einige Mädchen aus unserem Kreise zu dem Dr. Wünsch gingen, und ihn baten auch uns Vorlesungen darüber zu halten. Dies geschahe, und wir waren sehr aufmerksame Zuhörerinnen, repetierten mit unserm Unterlehrer, dem Herrn von Kleist, und machten auch Aufsätze über das, was wir hörten. [LS 38]

(Sembdners Quelle: Krug-Genthe, Martha: H. v. Kleist und Wilhelmine v. Zenge. The Journal of English and Germanie Philology. Bd. 6, Baltimare 1907, S. 432-445 (Verbesserter Abdruck nach dem Original in der Dt. Staatsbibl. Berlin)


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