Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 78)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Nach Pfuels Erzählung (Wilbrandt 1863)

Einen andern größeren Stoff fand er in der Schweizer Geschichte auf: ein Trauerspiel »Leopold von Österreich«. … Kleist ließ sich zunächst an seinen schweizerischen Quellen genügen; und Pfuel erzählt, daß er diesen Quellen viele pikante Züge entnahm, die er mit gewaltiger Wirkung verwertete.

Die Hauptszene aber des ersten Aktes war, wie die Ritter Leopolds vor der Sempacher Schlacht würfeln, wer mit dem Leben davonkommen wird, wer nicht. Die stolzen Herren sitzen zechend beisammen, und sie beginnen das Würfeln wie ein übermütiges Spiel. Drei schwarze Seiten haben die Würfel und drei weiße; die schwarzen bedeuten den Tod. Die ersten der Würfler werfen schwarz; man lacht und scherzt darüber; das Spiel geht fort, auch die nächsten werfen schwarz, und immer mehr und mehr – allmählich verstummt der kecke Jubel, und ein nachdenklicher Ernst kommt über die Gesellschaft; – zuletzt haben alle schwarz geworfen. Wie dieser grausige Vorgang Schritt für Schritt in dem hochfahrenden Kreise die unheimlichste, zuletzt die fürchterlichste Stimmung verbreitet, das war, nach Pfuels Erinnerungen, mit überwältigender Kraft geschildert.

Man muß nach allem vermuten, daß Kleist diesen ersten Akt schon auf seiner Insel in der Aare schrieb; er hat überhaupt (wie Pfuel versichert) nur den einen vollendet.

(Sembdners Quelle: Wilbrandt, Adolf: Heinrich v. Kleist. Nördlingen 1863, S. 152-154)

[Anmerkung Sembdner: »Dieser Bericht ist ein Beispiel dafür, wie sich in der Erinnerung, zumal bei dem alten Pfuel, die Tatsachen verschieben können. Paul Hoffmann konnte nachweisen, daß die angebliche Szene aus ›Leopold von Österreich‹, für die sich keinerlei schweizerische Quellen ermitteln ließen, nicht von Kleist stammt, sondern genau so, wie Pfuel sie schildert, in Jakob Hottingers vaterländischem Schauspiel ›Arnold von Winkelried‹ enthalten ist. Zusammen mit Kleists ›Zerbrochnem Krug‹ war Hottingers Schauspiel 1812 im ersten Band des Sammelwerks ›Deutsche Schaubühne‹ erschienen, wo Pfuel offenbar auf die eindrucksvolle Szene stieß, die er dann in der Erinnerung mit Kleists Namen verknüpfte. – Hoffmann, Paul: Einiges zu Kleist. Jahrb. d. Kleistges. 1937, S. 98-103«]


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