Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 99)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Zeitung für die elegante Welt, 30. Juli 1803

Unsere Schöne Literatur hat neuerdings in dem Trauerspiel in fünf Aufzügen: Die Familie Schroffenstein ein sehr ausgezeichnetes, geniales Produkt gewonnen. Jede Zeitschrift, die auf die Fortschritte in unserer Poesie hinzudeuten sich bemüht, sollte sich's in der Tat als Pflicht angelegen sein lassen, es als eine sehr merkwürdige Erscheinung zu empfehlen, da besonders in der jetzigen Periode so leicht zu befürchten ist, daß ein aufkeimendes Genie dem Drange ungünstiger Umstände, die hauptsächlich aus der Kälte der Zeitgenossen für alles wahrhaft Gute herfließen, unterliegt.

Jeder gebildete Leser dieses Stücks wird das Inkorrekte, Unzusammenhängende, Wilde, mit einem Worte Jugendliche, das darin herrscht, auf den ersten Blick erkennen, und gerade hierauf stützt sich die schönste Hoffnung bei demselben, daß nämlich der Verfässer erst ein angehender junger Schriftsteller ist. – Ebensowenig aber kann ihm der eigene, selbständige Geist entgehen, der darin durchgängig herrscht, und der sowohl aus den einzelnen Partien als aus der kühn gedachten Anlage des Ganzen hervorleuchtet. Goethe und Schiller scheinen dem Verfasser weniger zu Vorbildern gedient zu haben, als die Quelle der modernen dramatischen Poesie selbst – Shakespeare, an dem sich sein Genie innig erwärmt hat, was außer mehreren Stellen besonders aus dem Schlusse des Stücks hervorzugehen scheint, der durch die Reflexionen des Wahnsinnigen eine so schneidende Wildheit bekommt, wie sie nur Shakespeare allein darzustellen gewagt hat. Meisterhaft und von großer Wirkung ist die Szene in der Höhle.

Vorschriften und Hindeutungen sind übrigens bei einem wahrhaft genialen Schriftsteller überflüssig; sein Weg wird ihm von innen angewiesen, und deshalb mag hier nur noch bloß der Wunsch stehen, daß der Verfasser sich bald seiner Nation näher bekannt machen möge.

(Sembdners Quelle: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig 1803)


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