Brief 1800-09-04

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Öderan, 4. September 1800

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Wilhelmine von Zenge


An das Stiftsfräulein Wilhelmine von Zenge, Hochwürden und Hochwohlgb. zu Frankfurt a. d. Oder, frei bis Berlin. [Berlin abzugeben bei dem Kaufmann Clausius in der Münzstraße.]

Öderan im Erzgebirge, den 4. Septbr. 1800, abends 9 Uhr (und 5. September)

So heißt der Ort, der mich für diese Nacht empfängt. Er ist zwar von Dir nicht gekannt, aber er sorgt doch für Deine Wünsche wie für einen alten Freund. Denn er bietet mir ein Stübchen an, ganz wie das Deinige in Frankfurt; und ich werde nicht einschlafen, ohne tausendmal an Dich gedacht zu haben.

Unsere Reise ging von Dresden aus südwestlich, immer an dem Fuße des Erzgebirges entlang, über Freiberg nach Oderan. Die ganze Gegend sieht aus wie ein bewegtes Meer von Erde. Das sind nichts als Wogen, immer die eine kühner als die andern. Doch sahen wir noch nichts von dem eigentlichen Hochgebirge. Bei Freiberg gingen wir wieder über denselben Strom, den wir schon bei Nossen auf der Reise nach Dresden passiert waren; welches aber nicht die Mulde ist. In dem Tale dieses Flusses liegt das Bergwerk. Wir sahen es von weitem liegen und mich drängte die Begierde, es zu sehen. Aber mein Ziel trat mir vor Augen, und in einer halben Stunde hatte ich Freiberg schon wieder im Rücken.

Hier bin ich nun 6 Meilen von Dresden. Brokes wünscht hier zu übernachten, aus Gründen, die ich Dir in der Folge mitteilen werde. Ich benutzte noch die erste Viertelstunde, um Dir an einem Tage auch noch den zweiten Brief zu schreiben. Mein letzter Brief aus Dresden ist auch vom 4., von heute. Du sollst an Nachrichten von mir nicht Mangel haben. Aber diese Absicht ist nun erfüllt, und eigentlich bin ich herzlich müde. Also gute Nacht, liebes Mädchen. Morgen schreibe ich mehr.

Chemnitz, den 5. September, morgens 8 Uhr

Wie doch zwei Kräfte immer in dem Menschen sich streiten! Immer weiter von Dir führt mich die eine, die Pflicht, und die andere, die Neigung, strebt immer wieder zu Dir zurück. Aber die höhere Macht soll siegen, und sie wird es. Laß mich nur ruhig meinem Ziele entgegen gehen, Wilhelmine. Ich wandle auf einem guten Wege, das fühle ich an meinem heitern Selbstbewußtsein, an der Zufriedenheit, die mir das Innere durchwärmt. Wie würde ich sonst mit solcher Zuversicht zu Dir sprechen? Wie würde ich sonst Dich noch mit inniger Freude die Meinige nennen können? Wie würde ich die schöne Natur, die jetzt mich umgibt, so froh und ruhig genießen können? Ja, liebes Mädchen, das letzte ist entscheidend. Einsamkeit in der offnen Natur, das ist der Prüfstein des Gewissens. In Gesellschaften, auf den Straßen, in dem Schauspiele mag es schweigen, denn da wirken die Gegenstände nur auf den Verstand und bei ihnen braucht man kein Herz. Aber wenn man die weite, edlere, erhabenere Schöpfung vor sich sieht, - ja da braucht man ein Herz, da regt es sich unter der Brust und klopft an das Gewissen. Der erste Blick flog in die weite Natur, der zweite schlüpft heimlich in unser innerstes Bewußtsein. Finden wir uns selbst häßlich, uns allein in diesem Ideale von Schönheit, ja dann ist es vorbei mit der Ruhe, und weg ist Freude und Genuß. Da drückt es uns die Brust zusammen, wir können das Hohe und Göttliche nicht fassen, und wandeln stumpf und sinnlos wie Sklaven durch die Paläste ihrer Herren. Da ängstigt uns die Stille der Wälder, da schreckt uns das Geschwätz der Quelle, uns ist die Gegenwart Gottes zur Last, wir stürzen uns in das Gewühl der Menschen um uns selbst unter der Menge zu verlieren, und wünschen uns nie, nie wiederzufinden.

Wie froh bin ich, daß doch wenigstens ein Mensch in der Welt ist, der mich ganz versteht. Ohne Brokes würde mir vielleicht Heiterkeit, vielleicht selbst Kraft zu meinem Unternehmen fehlen. Denn ganz auf sein Selbstbewußtsein zurückgewiesen zu sein, nirgends ein paar Augen finden, die uns Beifall zuwinken - und doch recht tun, das soll freilich, sagt man, die Tugend der Helden sein. Aber wer weiß ob Christus am Kreuze getan haben würde, was er tat, wenn nicht aus dem Kreise wütender Verfolger seine Mutter und seine Jünger feuchte Blicke des Entzückens auf ihn geworfen hätten.

Die Post ist vor der Türe, adieu. Ich nehme diesen Brief noch mit mir. Er kömmt zwar immer weiter von Dir ab und später wirst Du ihn nun erhalten. Aber das Porto ist teuer, und wir beide müssen für ganzes Geld auch das ganze Vergnügen genießen.

Noch einen Gedanken - -. Warum, wirst Du sagen, warum spreche ich so geheimnisreiche Gedanken halb aus, die ich doch nicht ganz sagen will? Warum rede ich von Dingen, die Du nicht verstehn kannst und sollst? Liebes Mädchen, ich will es Dir sagen. Wenn ich so etwas schreibe, so denke ich mich immer zwei Monate älter. Wenn wir dann einmal, in der Gartenlaube, einsam, diese Briefe durchblättern werden, und ich Dir solche dunkeln Äußerungen erklären werde, und Du mit dem Ausruf des Erstaunens: ja so, so war das gemeint - -

Adieu. Der Postillion bläst.

Lungwitz, um 1/2 11 Uhr

O welch ein herrliches Geschenk des Himmels ist ein schönes Vaterland! Wir sind durch ein einziges Tal gefahren, romantisch schön. Da ist Dorf an Dorf, Garten an Garten, herrlich bewässert, schöne Gruppen von Bäumen an den Ufern, alles wie eine englische Anlage. Jeder Bauerhof ist eine Landschaft. Reinlichkeit und Wohlstand blickt aus allem hervor. Man sieht aus dem Ganzen, daß auch der Knecht und die Magd hier das Leben genießen. Frohsinn und Wohlwollen spricht uns aus jedem Auge an. Die Mädchen sind zum Teil höchst interessant gebildet. Das findet man meistens in allen Gebirgen. Wahrlich, wenn ich Dich nicht hätte, und reich wäre, ich sagte à dieu à toutes les beautés des villes. Ich durchreisete die Gebirge, besonders die dunkeln Täler, spräche ein von Haus zu Haus, und wo ich ein blaues Auge unter dunkeln Augenwimpern, oder bräunliche Locken auf dem weißen Nacken fände, da wohnte ich ein Weilchen und sähe zu ob das Mädchen auch im Innern so schön sei, wie von außen. Wäre das, und wäre auch nur ein Fünkchen von Seele in ihr, ich nähme sie mit mir, sie auszubilden nach meinem Sinn. Denn das ist nun einmal mein Bedürfnis; und wäre ein Mädchen auch noch so vollkommen, ist sie fertig, so ist es nichts für mich. Ich selbst muß es mir formen und ausbilden, sonst fürchte ich, geht es mir, wie mit dem Mundstück an meiner Klarinette. Die kann man zu Dutzenden auf der Messe kaufen, aber wenn man sie braucht, so ist kein Ton rein. Da gab mir einst der Musikus Baer in Potsdam ein Stück, mit der Versicherung, das sei gut, er könne gut darauf spielen. Ja, er, das glaub ich. Aber mir gab es lauter falsche quiekende Töne an. Da schnitt ich mir von einem gesunden Rohre ein Stück ab, formte es nach meinen Lippen, schabte und kratzte mit dem Messer bis es in jeden Einschnitt meines Mundes paßte - - und das ging herrlich. Ich spielte nach Herzenslust. –

Zuweilen bin ich auf Augenblicke ganz vergnügt. Wenn ich so im offnen Wagen sitze, der Mantel gut geordnet, die Pfeife brennend, neben mir Brockes, tüchtige Pferde, guter Weg, und immer rechts und links die Erscheinungen wechseln, wie Bilder auf dem Tuche bei dem Guckkasten - und vor mir das schöne Ziel, und hinter mir das liebe Mädchen - - und in mir Zufriedenheit - dann, ja dann bin ich froh, recht herzlich froh.

Wenn Du einmal könntest so neben mir sitzen, zur Linken, Arm an Arm, Hand in Hand, immer Gedanken wechselnd und Gefühle, bald mit den Lippen, bald mit den Fingern - ja das würden schöne, süße herrliche Tage sein.

Was das Reisen hier schnell geht, das glaubst Du gar nicht. Oder ist es die Zeit, die so schnell verstreicht? Fünf Uhr war es als wir von Oderan abfuhren, jetzt ist es 1/2 11, also in 5 1/2 Stunde 4 Meilen. Jetzt geht es gleich weiter nach Zwickau. Wir fliegen wie die Vögel über die Länder. Aber dafür lernen wir auch nicht viel. Einige flüchtige Gedanken sind die ganze Ausbeute unsrer Reise.

Sind Sie in Dresden gewesen? - »Ja, durchgereist.« - Haben Sie das grüne Gewölbe gesehen? - »Nein.« - Das Schloß? - »Von außen.« - Königsstein? - »Von weitem.« - Pillnitz, Moritzburg? - »Gar nicht.« - Mein Gott, wie ist das möglich - »Möglich? Mein Freund, das war notwendig.«

Weil wir eben von Dresden sprechen - da habe ich Dir einige Ansichten dieser Gegend mitgeschickt. So kannst Du Dir deutlicher denken, wo Dein Freund war. Bei Dresden, rechts, der grüne Vordergrund, das ist der Zwinger. Nein - Eigentlich der Turm, an den der grüne Berg und die grüne Allee stößt, das ist der Zwinger, d. h. der kurfürstliche Garten. Auf diesem grünen Berge stand ich und sah über die Elbbrücke. - Das Stück von Tharandt ist schlecht. Tausendmal schöner hat es die Natur gebildet, als dieser Pfuscher von Künstler. Übrigens kann es doch meine Beschreibung davon erklären. Der höchste Berg in der Mitte, wo die schönsten Sträucher stehen, da stand ich. Die Aussicht über den See ist die schönste. Die andern beiden sind hier versteckt. - Das dritte Stück: die Halsbrücke zu Freiberg kaufte ich ebenfalls zu Dresden in Hoffnung sie in natura zu sehen. Aber daraus ward nichts, nicht einmal von weitem.

Adieu, in der nächsten Station noch ein Wort, und dann wird der Brief zugesiegelt und abgeschickt.

Zwickau, 3 Uhr nachmittags

Jetzt habe ich das Schönste auf meiner ganzen bisherigen Reise gesehen, und ich will es Dir beschreiben.

Es war das Schloß Lichtenstein. Wir sahen von einem hohen Berge herab, rechts und links dunkle Tannen, ganz wie ein gewählter Vordergrund; zwischen durch eine Gegend, ganz wie ein geschlossnes Gemälde. In der Tiefe lag zur Rechten am Wasser das Gebirgsstädtchen; hinter ihm, ebenfalls zur Rechten, auf der Hälfte eines ganz buschigten Felsens, das alte Schloß Lichtenstein; hinter diesem, immer noch zur Rechten ein höchster Felsen, auf welchem ein Tempel steht. Aber zur Linken öffnet sich ein weites Feld, wie ein Teppich, von Dörfern, Gärten und Wäldern gewebt. Ganz im Hintergrunde ahndet das Auge blasse Gebirge und drüber hin, über die höchste matteste Linie der Berge, schimmert der bläuliche Himmel, der Himmel im Norden, der Himmel von Frankfurt, der Himmel, der mein liebes Minchen beleuchtet, und beschützen möge, bis ich es einst wieder in meine Arme drücke.

Ja, mein liebes Mädchen, das ist ein ganz andrer Stil von Gegend, als man in unserm traurigen märkischen Vaterlande sieht. Zwar ist das Tal, das die Oder ausspült, besonders bei Frankfurt sehr reizend. Aber das ist doch nur ein bloßes Miniatürgemälde. Hier sieht man die Natur gleichsam in Lebensgröße. Jenes ist gleichsam wie die Gelegenheitsstücke großer Künstler, flüchtig gezeichnet, nicht ohne meisterhafte Züge, aber ohne Vollendung; dieses hingegen ist ein Stück, mit Begeisterung gedichtet, mit Fleiß und Genie auf das Tableau geworfen, und aufgestellt vor der Welt mit der Zuversicht auf Bewunderung.

Dabei ist alles fruchtbar, selbst die höchsten Spitzen bebaut, und oft bis an die Hälfte des Berges, wie in der Schweiz, laufen saftgrüne Wiesen hinan. –

Aber nun muß ich den Brief zusiegeln. Adieu. Schreibe mir doch ob Vater und Mutter nicht nach mir gefragt haben; und in welcher Art. Aber sei ganz aufrichtig. Ich werde ihnen flüchtige Gedanken, die natürlich sind, nicht verdenken. Aber bleibe Du standhaft, und verlasse Dich darauf, daß ich diesmal besser für Dich, und also für Deine Eltern sorge, als je in meinem Leben.

Adieu - Oder soll ich Dir noch einmal schreiben von der nächsten Station? Soll ich? - Es ist 3 Uhr, um 6 sind wir in Reichenbach - ja es sei. - Aber für diesen Brief, für dieses Kunststück einen 8 Seiten langen Brief mitten auf einer ununterbrochenen Extrapost-Reise zu schreiben, dafür, sage ich, mußt Du mir auch bei der Rückkehr entweder - einen Kuß geben, oder mir ein neues Band in den Tobaksbeutel ziehen. Denn das alte ist abgerissen.

Aber nun will ich auch einmal etwas essen. Adieu. In Reichenbach mehr. –

Geschwind noch ein paar Worte. Der Postillion ist faul und langsam, ich bin fleißig und schnell. Das ist natürlich, denn er arbeitet für Geld, und ich für den Lohn der Liebe.

Aber geschwind - Ich bin in die sogenannte große Kirche gewesen, hier in Zwickau. Da gibt es manches zu sehen. Zuerst ist der Eindruck des Innern angenehm und erhebend. Ein weites Gewölbe wird von wenigen und doch schlanken Pfeilern getragen. Wir sehen es gern, wenn mit geringen Kräften ausgewirkt wird, was große zu erfordern scheint. Ferner war zu sehn ein Stück von Lucas Cranach, mit Meisterzügen, aber ohne Plan und Ordnung, wie die durchlöcherten und gefärbten Stücke, die an den Türen der Bauern, Soldaten und Bedienten hangen; doch das kennst Du nicht. Ferner war zu sehn, ein Modell des heiligen Grabes zu Jerusalem aus Holz geschnitzt etc. etc.

Dabei fällt mir eine Kirche ein, die ich Dir noch nicht beschrieben habe; die Nickolskirche zu Leipzig. Sie ist im Äußern, wie die Religion, die in ihr gepredigt wird, antik, im Innern nach dem modernsten Geschmack ausgebaut. Aus der Kühnheit der äußeren Wölbungen sprach uns der Götze der abenteuerlichen Goten zu; aus der edeln Simplizität des Innern wehte uns der Geist der verfeinerten Griechen an. Schade daß ein --- ich hätte beinah etwas gesagt, was die Priester übelnehmen. Aber das weiß ich, daß die edeln Gestalten der leblosen Steine wärmer zu meinem Herzen sprachen, als der hochgelehrte Priester auf seiner Kanzel.

Reichenbach, abends 8 Uhr

Nur zwei Dinge möchte ich gewiß wissen, dann wollte ich mich leichter, über den Mangel aller Nachrichten von Dir trösten: erstens ob Du lebst, zweitens, ob Du mich liebst. Oder nur das erste; denn dies, hoffe ich, schließt bei Dir, wie bei mir, das andere ein. Aber am liebsten fast möchte ich wissen, ob Du ganz ruhig bist. Wenn Du nur damals an jenem Abend in der Gartenlaube nicht geweint hättest, als ich Dir einen doppelsinnigen Gedanken mitteilte, von dem Du gleich den übelsten Sinn auffaßtest. Aber Du versprachst mir Besserung, und wirst Dein Wort halten und vernünftig sein. Wie sollte es Dich einst reuen, Wilhelmine, wenn Du mit Beschämung, vielleicht in kurzem, einsähest, Deinem redlichsten Freunde mißtraut zu haben. Und wie wird es Dich dagegen mit innigem Entzücken erfüllen, wenn Du in wenigen Wochen, den Freund, dem Du alles vertrautest, und der Dich in nichts betrog, in die Arme schließen kannst.

Adieu, liebes Mädchen, jetzt schließe ich den Brief. In der nächsten Station fange ich einen andern Brief an. Es werden doch Zwischenräume von Tagen sein, ehe Du den folgenden Brief empfängst. Vielleicht empfängst Du sie auch alle auf einmal. - Aber was ich in der Nacht denken werde weiß ich nicht, denn es ist finster, und der Mond verhüllt. - Ich werde ein Gedicht machen. Und worauf? - Da fielen mir heute die Nadeln ins Auge, die ich einst in der Gartenlaube aufsuchte. Unaufhörlich lagen sie mir im Sinn. Ich werde in dieser Nacht ein Gedicht auf oder an eine Nadel machen. Adieu. Schlafe wohl, ich wache für Dich.

H. K.

N. S. Soeben höre ich, daß der Waffenstillstand zwischen Kaiserlichen und Franzosen morgen, den 6., aufhört. Wir reisen grade den Franzosen entgegen, und da wird es was Neues zu sehen geben. Wenn nur die Briefe nicht gehindert werden! Aber Briefe an Damen - die Franzosen sind artig - ich hoffe das Beste. Fürchte nichts für mich.




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