Brief 1801-06-03

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Göttingen, 3. Juni 1801

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Wilhelmine von Zenge


Göttingen, den 3. Juni 1801

Mein liebes Minchen, ich habe Deinen Brief, der mir aus mehr als einer Rücksicht herzlich wohl tat, gestern hier erhalten und eile ihn zu beantworten. - Du bist nicht zufrieden, daß ich Dir das Äußere meiner Lage beschreibe, ich soll Dir auch etwas aus meinem Innern mitteilen? Ach, liebe Wilhelmine, leicht ist das, wenn alles in der Seele klar und hell ist, wenn man nur in sich selbst zu blicken braucht, um deutlich darin zu lesen. Aber wo Gedanken mit Gedanken, Gefühle mit Gefühlen kämpfen, da ist es schwer zu nennen, was in der Seele herrscht, weil noch der Sieg unentschieden ist. Alles liegt in mir verworren, wie die Wergfasern im Spinnrocken, durcheinander, und ich bin vergebens bemüht mit der Hand des Verstandes den Faden der Wahrheit, den das Rad der Erfahrung hinaus ziehen soll, um die Spule des Gedächtnisses zu ordnen. Ja selbst meine Wünsche wechseln, und bald tritt der eine, bald der andere ins Dunkle, wie die Gegenstände einer Landschaft, wenn die Wolken drüber hinziehn. - Was Du mir zum Troste sagst, ist wirklich das Tröstlichste, das ich kenne. Ich selbst fange an, zu glauben, daß der Mensch zu etwas mehr da ist, als bloß zu denken - Arbeit, fühle ich, wird das einzige sein, was mich ruhiger machen kann. Alles was mich beunruhigt ist die Unmöglichkeit, mir ein Ziel des Bestrebens zu setzen, und die Besorgnis, wenn ich zu schnell ein falsches ergriffe, die Bestimmung zu verfehlen und so ein ganzes Leben zu verpfuschen - Aber sei ruhig, ich werde das rechte schon finden. Falsch ist jedes Ziel, das nicht die reine Natur dem Menschen steckt. Ich habe fast eine Ahndung von dem rechten - wirst Du, Wilhelmine, mir dahin folgen, wenn Du Dich überzeugen kannst, daß es das rechte ist -? Doch laß mich lieber schweigen von dem, was selbst in mir noch ganz undeutlich ist. Die Geschichte Deines Lebens während der Abwesenheit Deiner Eltern, und besonders die Art von Freude, welche Du da genossen hast, hat mich ganz unbeschreiblich gerührt - Diese Freude, Wilhelmine, ist Dir gewiß; aber wirst Du Dich mit dieser einzigen begnügen können -? Kann es ein Mädchen von Deinem Stande, so bist Du es, und dieser Gedanke stärkt mich ganz unbeschreiblich. - Sei zufrieden mit diesen wenigen Zügen aus meinem Innern. Es ist darin so wenig bestimmt, daß ich mich fürchten muß etwas aufzuschreiben, weil es dadurch in gewisser Art bestimmt wird. Errate daraus was Du willst - gewiß ist es, daß ich kein andres Erdenglück wünsche, als durch Dich. Fahre fort, liebes Mädchen, Dich immer fähiger zu machen, zu beglücken. Rousseau ist mir der liebste durch den ich Dich bilden lassen mag, da ich es selbst nicht mehr unmittelbar, wie sonst, kann. Ach, Wilhelmine, Du hast mich an frohe Zeiten erinnert, und alles ist mir dabei eingefallen, auch das, woran Du mich nicht erinnert hast. Glaubst Du wohl, daß ein Tag vergeht, ohne daß ich an Dich dächte -? Dein Bild darf ich so oft nicht betrachten als ich wohl möchte, weil mir jeder unbescheidner Zeuge zuwider ist. Mehr als einmal habe ich gewünscht, meinem ersten Entschluß, allein zu reisen, treu geblieben zu sein - Ich ehre Ulrike ganz unbeschreiblich, sie trägt in ihrer Seele alles, was achtungswürdig und bewundrungswert ist, vieles mag sie besitzen, vieles geben können, aber es läßt sich, wie Goethe sagt, nicht an ihrem Busen ruhen - Doch dies bleibt, wie alles, unter uns - Von unsrer Reise kann ich Dir auch manches wieder erzählen. Wir reisen, wie Du vielleicht noch nicht weißt, mit eignen Pferden, die wir in Dresden gekauft haben. Johann leistet uns dabei treffliche Dienste, wir sind sehr mit ihm zufrieden, und denken oft mit Dankbarkeit an Carln, der ihn uns freiwillig abtrat. - Carl ist wohl jetzt in Frankfurt? Oder ist er in Magdeburg? Wenn Du ihn siehst oder schreibst, so sage ihm doch auch ein Wörtchen von mir. Ich hatte versprochen, ihm auch zuweilen zu schreiben, aber das Schreiben wird mir jetzt so schwer, daß ich oft selbst die notwendigsten Briefe vernachlässige. Gestern endlich habe ich zum erstenmale an meine Familie nach Pommern geschrieben - sollte man wohl glauben, daß ein Mensch, der in seiner Familie alles fand, was ein Herz binden kann, Liebe, Vertrauen, Schonung, Unterstützung mit Rat und Tat, sein Vaterland verlassen kann, ohne selbst einmal schriftlich Abschied zu nehmen von seinen Verwandten? - Und doch sind sie mir die liebsten und teuersten Menschen auf der Welt! So widersprechen sich in mir Handlung und Gefühl - Ach, es ist ekelhaft, zu leben - Schreibe also Carln, er solle nicht zürnen, wenn Briefe von mir ausblieben, großmütig sein, und zuweilen etwas von sich hören lassen, Neuigkeiten schreiben und dergleichen. Bitte ihn doch auch, er möchte sich einmal bei Rühle erkundigen, ob dieser denn gar keine Briefe von mir erhalten hat, auch nicht die große Schrift, die ich ihm von Berlin aus schickte? Er möchte ihn doch antreiben, einmal an mich zu schreiben, da mir sehr viel daran gelegen wäre, wenigstens zu wissen, ob die Schrift nicht verloren gegangen ist. - Ich will Dich doch von Leipzig nach Göttingen führen, aber ein wenig schneller, als wir reiseten. Denn wir wandern, wie die alten Ritter, von Burg zu Burg, halten uns auf und wechseln gern ein freundliches Wort mit den Leuten. Wir suchen uns in jeder Stadt immer die Würdigsten auf, in Leipzig Plattner, Hindenburg, in Halle Klügel, in Göttingen Blumenbach, Wrisberg etc. etc. Aber Du kennst wohl diese Namen nicht? Es sind die Lehrer der Menschheit. - In Leipzig fand endlich Ulrike Gelegenheit zu einem Abenteuer, und hörte verkleidet einer öffentlichen Vorlesung Plattners zu. Das geschah aber mit Vorwissen des Hofrats, indem er selbst wünschte, daß sie, Störung zu vermeiden, lieber in Mannskleidern kommen möchte, als in Weiberröcken. Alles lief glücklich ab, der Hofrat und ich, wir waren die einzigen in dem Saale, die um das Geheimnis wußten. - In Halberstadt besuchten wir Gleim, den bekannten Dichter, einen der rührendsten und interessantesten Greise, die ich kenne. An ihn waren wir zwar durch nichts adressiert, als durch unsern Namen; aber es gibt keine bessere Adresse als diesen. Er war nämlich einst ein vertrauter Freund Ewald Kleists, der bei Frankfurt fiel. Kurz vor seinem Tode hatte dieser ihm noch einen Neffen Kleist empfohlen, für den jedoch Gleim niemals hatte etwas tun können, weil er ihn niemals sah. Nun glaubte er, als ich mich melden ließ, ich sei es, und die Freude mit der er uns entgegen kam war unbeschreiblich. Doch ließ er es uns nicht empfinden, als er sich getäuscht, denn alles, was Kleist heißt, ist ihm teuer. Er führte uns in sein Kabinett, geschmückt mit Gemälden seiner Freunde. Da ist keiner, sagte er, der nicht ein schönes Werk schrieb, oder eine große Tat beging. Kleist tat beides und Kleist steht oben an - Wehmütig nannte er uns die Namen der vorangegangnen Freunde, trauernd, daß er noch zurück sei. Aber er ist 83 Jahr, und so die Reihe wohl auch bald an ihn - Er besitzt einige hundert Briefe von Kleist, auch sein erstes Gedicht. Gleim war es eigentlich, der ihm zuerst die Aussicht nach dem Parnaß zeigte, und die Veranlassung ist seltsam und merkwürdig genug. Kleist war nämlich in einem Duell blessiert, und lag krank im Bette zu Potsdam. Gleim war damals Regiments-Quartiermeister und besuchte den Kranken, ohne ihn weiter genau zu kennen. Ach, sagte Kleist, ich habe die größte Langeweile, denn ich kann nicht lesen. Wissen Sie was, antwortete Gleim, ich will zuweilen herkommen und Ihnen etwas vorlesen. Damals eben hatte Gleim scherzhafte Gedichte gemacht, im Geschmack Anakreons, und las ihm unter andern eine Ode an den Tod vor, die ohngefähr so lautet: Tod, warum entführst du mir mein Mädchen? Kannst du dich auch verlieben? - - Und so geht es fort. Am Ende heißt es: Was willst du mit ihr machen? Kannst du doch mit Zähnen ohne Lippen, wohl die Mädchen beißen, doch nicht küssen - Über diese Vorstellung, wie der Tod mit seinen nackten, eckigen Zähnen, vergebens sich in die weichen Rosenlippen drückt, einen Kuß zu versuchen, gerät Kleist so ins Lachen, daß ihm bei der Erschütterung, das Band von der Wunde an der Hand abspringt. Man ruft einen Feldscher. Es ist ein Glück, sagt dieser, daß Sie mich rufen lassen, denn unbemerkt ist der kalte Brand im Entstehen und morgen wäre es zu spät gewesen. - Aus Dankbarkeit widmete Kleist der Dichtkunst das Leben, das sie ihm gerettet hatte. - In Wernigerode lernten wir eine sehr liebenswürdige Familie kennen, die Stolbergsche. - In Goslar fuhren wir in den Rammelsberg, wo in großen Höhlen die Erze mit angezündeten Holzstößen abgebrannt werden, und alles vor Hitze nackend arbeitet. Man glaubt in der Hölle, oder doch wenigstens in der Werkstatt der Zyklopen zu sein. - Von Ilsenburg aus bestiegen wir am Nachmittage des 31. den Brocken, den Du schon aus meiner früheren Reisebeschreibung kennst. Ich habe auch Quedlinburg lange wieder, aber nur von weitem, angesehen - In Ilsenburg habe ich den Teich gesehen, auf welchem die Knobelsdorf als Kind herumgefahren ist. Schreibe doch Carl, der alte Otto ließe die Knobelsdorf grüßen. - Und nun lebe wohl. Heute sind wir hier auf einem Balle, wo die Füße springen werden, indessen das Herz weint. Dann geht der Körper immer weiter und weiter von Dir, indessen die Seele immer zu Dir zurück strebt. Bald an diesen, bald an jenen Ort treibt mich das wilde Geschick, indessen ich kein innigeres Bedürfnis habe, als Ruhe - Können so viele Widersprüche in einem engen Herzen wohnen? -? Lebe wohl. Hier hast Du meine Reiseroute. Morgen geht es nach Frankfurt, Mainz, Mannheim; dahin schreibe mir, und teile diese Adresse Carln mit. Wir werden dann unsre Tour über die Schweiz und Südfrankreich nehmen - Südfrankreich! Du kennst doch noch das Land? Und das alte Projekt -? In Paris werde ich schon das Studium der Naturwissenschaft fortsetzen müssen, und so werde ich wohl am Ende noch wieder in das alte Gleis kommen, vielleicht auch nicht, wer kann es wissen - Ich bin an lauter Pariser Gelehrten adressiert, und die lassen einen nicht fort, ohne daß man etwas von ihnen lernt. Lebe wohl, grüße die goldne Schwester, Carln, und alle die es gern hören, daß ich mich ihrer erinnere.

Heinrich Kleist.


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